Night – Aaron Copland
Als Aaron Copland 1918 Night komponierte, lag seine Zukunft als einer der einflussreichsten US-amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts noch vor ihm. Der damals Achtzehnjährige hatte von seinem Freund und Unterstützer Aaron Schaffer dessen jüngst veröffentlichten Gedichtband zugeschickt bekommen und drei der Gedichte in Musik gesetzt, darunter Night. Erst in den 1980ern herausgegeben, gehören diese frühen Lieder zu den unbekannteren Kompositionen Coplands.
Es ist wenig verwunderlich, dass der Textdichter Schaffer in seiner ersten Reaktion auf Coplands Vertonung direkt Ravel und Debussy als kompositorische Vorbilder identifizieren konnte: Copland zeichnet den musikalischen Nachtspaziergang durch eine farbenreiche Harmonik unter Verwendung von Ganztonleitern und pentatonischen Momenten nach. Das Ergebnis ist eine traumwandlerisch-schwebende Klangwelt. In Schaffers Gedicht und Coplands Vertonung präsentiert sich die Nacht als ein Raum voller unwirklicher, gar trügerischer Schönheit. Beginnend mit den Worten »my heart is placid as a lake«, liegt der Fokus zunächst auf der nächtlichen Welt als Ruhepol und Zufluchtsort, an dem die »faint melodies of night« das Herz zu beruhigen vermögen. Doch die sanft wogende Begleitstimme und die lyrische Melodieführung der idyllischen Schilderung werden abrupt unterbrochen durch das wortwörtliche Aufschrecken des Herzens. Das Bild der Nacht wird zusehends ambivalenter – ihre Ruhe ist nicht nur balsamisch, sie kann trügerisch sein, erdrücken, Empfindungen der Einsamkeit auslösen, »ghostly« wirken.
Die Nacht des 16. März 1945, in die sich Laura zurückversetzt fühlt, hat nichts Ruhevolles: Sie ist eine Nacht des Lärms, des Feuers und des Bombenhagels. In der gespenstischen Abgeschlossenheit des Luftschutzkellers – einem Moment des Erstarrens inmitten der Katastrophe – spürt Laura den Erinnerungen an die Zuflucht bei den Erlöserschwestern nach. Zwischen dem Warten, Horchen und Bangen drängen sich Fragen auf: Welche Welt wird sie draußen vorfinden? Welches Weiterleben wird möglich sein? Laura begibt sich auf die Suche nach den Schicksalen der Nacht, ihren Melodien und Geschichten. Alle sind geprägt von Ängsten und Unsicherheiten und hängen, wie Coplands Harmonik, in der Schwebe. (Josephine Dorothea Oeß)