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Ragna Schirmer und Markus Thiel im Gespräch

»Das braucht Mut, aber den habe ich«

Gang zum Podium, eintauchen ins Werk, anschließend Applaus: Ragna Schirmer war das schon immer zu wenig. Dass sie eine feinsinnige, stilbewusste und damit auch stilprägende Interpretin ist, steht außer Frage – gerade, was Mozarts Klavierkonzerte betrifft. Aber ihre künstlerische Arbeit erschöpft sich darin nicht. Längst nicht! Mit großer Offenheit und Bereitschaft zum Dialog gibt Ragna Schirmer seit Jahren ihre Erkenntnisse weiter – als Musikdenkerin- und vermittlerin, als Moderatorin und Programmgestalterin. Als eine, die sich für Musik und deren Belange engagiert, die Begabungen fördert, die forscht, nachspürt und nachbohrt, die neugierig ist auf neue Formen und Formate. Eine Künstlerin, die sich begeistern kann und zu begeistern versteht. Dabei ist die gebürtige Hildesheimerin und Wahl-Hallenserin keine Revolutionärin, die umkrempeln will oder auf Barrikaden kämpft. Sie ist vielmehr eine klug abwägende Evolutionärin, die Traditionen achtet und mitdenkt, wenn sie Veränderungen fordert. Und diese auch vorantreibt – reflektiert, pragmatisch und unbeirrbar. 2023 ist Ragna Schirmer Artiste étoile des Mozartfestes. In zehn Konzerten und als Dozentin im MozartLabor lässt sie sich auf die Faszination Mozart ein. Markus Thiel traf Ragna Schirmer zum Gespräch.

MARKUS THIEL
Ragna Schirmer, was heißt für Sie Artiste étoile? Die größtmögliche Variationsbreite zu zeigen – oder an einer Stelle anzusetzen und in die Tiefe zu gehen?

RAGNA SCHIRMER
Wenn ich mich entscheiden müsste, Ersteres. Die bessere Antwort wäre aber: beides. Ich verstehe meine Aufgabe so, dass ich als Person während der kompletten Dauer des Mozartfestes präsent bin und verschiedene Facetten des Mottos beleuchte, in unserem Fall: »speculire – studiere – überlege: Faszination Mozart«. Für meine Tätigkeit heißt dies, dass ich mich im MozartLabor beispielsweise dem Lehrer und Vorbild Mozart widme. An anderer Stelle wird die Rolle der Musik im Theaterkontext eines Marionettenspiels beleuchtet oder die Bedeutung des Instruments für die Interpretation, indem ein historischer einem modernen Flügel gegenübergestellt wird. Ganz besonders freue ich mich natürlich auf die großen Orchesterkonzerte.

MARKUS THIEL
»Faszination Mozart«: Wenn dies über einer Salzburger Touristenveranstaltung stehen würde, dann könnte Klischee-Alarm ausgelöst werden. Oder sind wir bei Mozart über Klischees längst hinweg?

RAGNA SCHIRMER
In Würzburg bestimmt. Das Mozartfest hat in dieser Hinsicht sehr viel erreicht. Ich verstehe das Motto als Blick in verschiedene Richtungen: Was faszinierte Mozart? Woher kommt er, musikalisch gesehen? Gerade das ist für mich, die ich mich viel mit Barockmusik beschäftigt habe, sehr interessant. Die andere Blickrichtung: Wen faszinierte Mozart? Was ist die unmittelbare Folge seines Tuns und seines Werks? Und: Wie fasziniert Mozart? Und: Wer war er überhaupt?

MARKUS THIEL
Können wir mittlerweile eine Antwort darauf geben? Angesichts der (Selbst-)Zeugnisse und seines Werks?

RAGNA SCHIRMER
Zu einer gesicherten Antwort werden wir nie kommen. Aber deutlich ist uns doch, wie viel Allzumenschliches bei Mozart immer im Spiel ist. Das spricht aus seinen Briefen, erst recht aus seinen Werken. Er war gewiss ein Mensch des Theaters, in jeglicher Hinsicht. Er wusste, wie er wirkte, was er preisgeben konnte und was nicht. Bei Genies dieser Größe bleibt natürlich immer Unerklärbares. Wenn wir uns allein vor Augen und Ohren führen, was dieser Mann in seinem kurzen Leben hinterlassen hat, an Menge und an Einzigartigem, ist das unbegreiflich. Menschen dieser Kraft sind nicht mit normalen Maßstäben zu fassen – und letztlich nicht von dieser Welt.

MARKUS THIEL
Bringen einen dabei Begriffe wie (Früh-)Reife weiter?

RAGNA SCHIRMER
Reife ist das Ergebnis vieler Versuche, großer Erfahrung und langer Auseinandersetzung. Wenn jemand mit fünf Jahren beginnt, Klavierstücke zu schreiben, hat er mit zehn tatsächlich eine gewisse Reife auf diesem Gebiet. Also ist Reife nicht ans Alter gebunden.

MARKUS THIEL
Wie gestaltete sich Ihr persönlicher Weg zu Mozart? War dieser Komponist immer präsent?

RAGNA SCHIRMER
Meine erste Erfahrung mit Mozart war sein kleines Rondo. Ich war acht Jahre alt und nahm in Braunschweig an meinem ersten Wettbewerb teil. Damals spielte ich ungefähr seit einem Jahr Klavier. Ich hatte mich intensiv vorbereitet – und dann passierte das, was bei einem Rondo mit seinen Themenwiederholungen eben passieren kann: Ich erwischte die falsche Weiche und spielte eine musikalische Schleife doppelt, um so erst verspätet den Weg zur Coda zu finden. Das war eigentlich nicht schlimm, aber ich rannte mit hochrotem Kopf von der Bühne! Ich dachte, ich hätte komplett versagt. Für die Zukunft hat mich dieses Ereignis eher angestachelt, mich noch besser zu konzentrieren. Nicht nur, aber auch und besonders bei und für Mozart.

MARKUS THIEL
Wie stark hat sich Ihre Mozart-Interpretation verändert – gerade vor dem Hintergrund einer Umwälzung in der Aufführungspraxis?

RAGNA SCHIRMER
Es gibt ja diesen berühmten Spruch, Mozart sei für die Jugend zu leicht und für die Älteren zu schwer. Wenn man sich ihm mit einer gewissen Naivität nähert, entsteht eine Art Natürlichkeit. Als ich in Hannover bei Karl-Heinz Kämmerling studierte, hieß es immer: »Mozart ist wie Shakespeare.« Ungeheuer tief, vielschichtig, letztlich unergründlich. Ich hatte den ersten Ton einer Mozart-Sonate noch gar nicht gespielt, da kam schon: »Zu laut! Zu oberflächlich!« Also vermied ich es eher, mich mit Mozart in den Unterricht zu wagen. Später habe ich Mozart-Konzerte immer wahnsinnig geliebt. Ich zog und ziehe sie – im Unterschied zu vielen meiner Kolleg:innen – den großen romantischen Konzerten vor. Ich habe immer das Gefühl: In dieser Detailverliebtheit, in dieser Finesse kann ich mehr von meiner Persönlichkeit und von meinen Stärken zeigen. Das heißt nicht, dass Mozart unbeschränkte Freiheit bietet. Alles muss an seinem Platz sein. Es gibt eine extreme Reduktion, eine unglaubliche Ökonomie in der Verwendung der Mittel. Keine Note ist zu viel, keine zu wenig.

MARKUS THIEL
Eigentlich ist die dogmatische Phase der aufführungspraktischen Diskussionen doch ohnehin vorbei. Also gibt es größere Freiheit ...

RAGNA SCHIRMER
Größere Vielfalt auf alle Fälle. Mittlerweile gibt es ganz allgemein gesehen eine Fülle von Solist:innen und Ensembles mit ihren so grundverschiedenen Haltungen. Insofern darf vieles nebeneinander stehen. Was sich sicherlich verändert hat: Man meidet grundsätzlich das – vereinfacht ausgedrückt – sogenannte romantische Spiel bei Mozart. Ich habe mir vor einiger Zeit aber dennoch die Freiheit genommen, Werke aus der Mozart-Zeit im Geiste Clara Schumanns zu sehen und zu spielen, sie also von der Interpretation her in eine aus heutiger Sicht zurückliegende Epoche zu transportieren.

MARKUS THIEL
Werfen wir einen Blick auf die letzten drei Jahre: Denken Sie anders über die Programmierung von Konzerten nach seit Beginn der Pandemie?

RAGNA SCHIRMER
ch habe im Sommer 2020, als es die Beschränkung auf 30 Besucher:innen in Kirchen gab, das Format »30 für 30« entwickelt. Bis zu fünfmal täglich spielte ich Bachs 30 Goldberg-Variationen für 30 Zuhörer:innen. Dabei bemerkte ich, wie sehr ich die Intimität, das Spiel vor wenigen Menschen, genoss. Ich spiele gern im kleinen Kontext, um dem Partner Publikum ganz nah zu sein, ihn förmlich zu spüren. Große Sinfoniekonzerte finden momentan seltener statt. Bedingt durch die Erfahrungen während der Pandemie-Jahre fehlen sie mir nicht. Ich genieße natürlich eine ausverkaufte Berliner Philharmonie. Ich scheue nicht die Masse. Aber das Format einer intimen Kammermusik-Soiree macht mich auf besondere Weise glücklich. Musik ganz nahbar, vielleicht gar eine Seelenentblößung auf kurze Entfernung. Das braucht Mut, aber den habe ich.

MARKUS THIEL
Viele haben Bedenken, dass diese Jahre auch eine Verengung der Programmatik mit sich bringen. Ein »neuer Biedermeier« wird befürchtet. Müssen sich die Musikschaffenden dem Publikum noch mehr entgegenstrecken, um es nicht zu verlieren?

RAGNA SCHIRMER
Die Musikwelt ist so breit aufgestellt, dass es für alle Nischen nicht nur ausführende Spezialist:innen, sondern immer auch hörende Interessent:innen geben wird. Alle Facetten der Musik, auch die weniger populären, haben ihren Platz. Damit das gelingt, müssen wir Musiker:innen zeigen, dass ein Live-Erlebnis durch keinen Stream oder andere Konserven zu ersetzen ist – und in den Alltag wieder integriert und verankert werden sollte. Wir alle tragen dabei die Verantwortung für hohe Qualität unserer Veranstaltungen und für Kultiviertheit in jeder Hinsicht.

MARKUS THIEL
Wie müssen sich die Künstler:innen vor diesem Hintergrund verändern? In Ihren Konzerten spielen Sie ja nicht nur, Sie sagen auch etwas ..

RAGNA SCHIRMER
Es gibt bereits ein großes Kaleidoskop an verschiedenen Facetten, was die Konzertstruktur betrifft. Ganz allgemein appelliere ich einfach daran, unser Publikum immer wieder zum Kommen zu motivieren. Und: Ich kann dabei meine Botschaft nicht einer mir letztlich unbekannten Adressat:in anpassen – nur weil ich glaube, dass dies einer breiteren Masse gefällt. Ich muss bei meiner Botschaft und bei meiner Art der Kunstvermittlung bleiben. Natürlich nicht in Konfrontation zum Publikum. Aber ich kann Kontraste und Bezüge zu Bekanntem darstellen und verdeutlichen. Da halte ich es mit Clara Schumann: Das Publikum ist mein Partner. Den muss ich mit Respekt und viel Zuneigung behandeln. Ich habe ihm gegenüber Verantwortung. Aber wie im wahren Leben darf ich mich niemandem so sehr anpassen, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Sonst ginge jede Beziehung in die Brüche.

MARKUS THIEL
Aber gibt es nicht doch inhaltlichen Nachholbedarf?

RAGNA SCHIRMER
Wir müssen uns damit abfinden, dass neue Generationen heranwachsen, die sich ganz neuen Aufgaben gegenübergestellt sehen. Innerhalb von Sekunden stehen per Klick alle möglichen Informationen zur Verfügung, die aber logischerweise aufgrund der Fülle nicht gänzlich und bis in jede Tiefe verarbeitet werden können. Sollen wir das beklagen oder lieber die neue Zeit mit all ihren Tücken als Chance betrachten? Ein Weg hinter die Digitalisierung zurück funktioniert nicht. Trotzdem gibt es Unabänderliches: Das rein Handwerkliche, das beim Musikmachen erforderlich ist, das stundenlange Üben, diese Notwendigkeit muss ich meinen Schüler:innen stets aufs Neue schmackhaft machen. Es gibt keine Tricks, Klavierspielen ist analog und manuell.

MARKUS THIEL
Warum wollten Sie eigentlich relativ bald auch pädagogisch tätig sein? Weil Sie etwas besser machen wollten als diejenigen, mit denen Sie als Schülerin zu tun hatten?

RAGNA SCHIRMER
Ich wäre nicht die, die ich bin, wenn ich nicht so hervorragende Lehrer:innen gehabt hätte. Deshalb war mir immer klar, wie wichtig es ist, dass ein junger Mensch im richtigen Moment die passenden Anleitungen erhält. Ich gebe also etwas zurück, das ich selbst bekommen habe. Außerdem glaube ich, dass ich eine pädagogische Ader habe. Ich habe schon als Schülerin gern alles doppelt und dreifach erklärt und so meine Mitmenschen genervt. Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass jede:r Musiker:in eine profunde pädagogische Ausbildung erhalten sollte. Denn früher oder später kommt die Situation, dass wir pädagogisch tätig sind, und das ist ohne methodischen Hintergrund schwierig.

MARKUS THIEL
Sie haben es bereits erwähnt: Zum Mozartfest bringen Sie auch ein Programm mit, bei dem Sie sowohl auf einem modernen Konzertflügel als auch auf einem historischen Instrument spielen. Sie selbst besitzen die stolze Zahl von acht Flügeln! Welcher ist denn der beste für Mozart?

RAGNA SCHIRMER
Ich spiele sehr gerne auf historischen Flügeln. Andererseits finde ich – ganz praktisch und pragmatisch – in den meisten Konzertsälen moderne Instrumente vor. Deshalb besitze ich so viele Flügel: Ich übe immer auf einem Instrument, was dem zu erwartenden im Konzertsaal am nächsten kommt. Im 18. und 19. Jahrhundert veränderte sich der Klavierbau stetig und ständig. Da macht es einen großen Unterschied, ob ich eine Wiener Mechanik von 1795 oder einen Pleyel von 1846 in die Finger bekomme. Ich besitze einen Wieck-Flügel, gebaut von Clara Schumanns Cousin, auf dem spiele ich natürlich gern romantische Werke. Und Mozart klingt sehr gut auf einem Walter-Flügel. Deshalb bringe ich einen solchen mit zum Mozartfest.